die betäubung erfolgt durch insekten

12. September 2023
  • leben, die wie krokusse wachsen
  • eine zierpflanze, andere safran
  • manche nur zum scheinkrokus oder zeitlosengewächs
  • sind sie ausdauerndes knollenkraut
  • glatt der blattrand
  • um den mittelnerv
  • stehen die blüten einzeln
  • oder zu vielen
  • erwachen im frühjahr oder herbst
  • gelb, weiss, hell-violett
  • zwittrig, symmetrisch und dreizählig
  • im boden ihr fruchtknoten
geb. 1994, träumte früher von Paris und bleibt heute lieber in Biel, ihre Texte sind kurz und «nichts als die Wahrheit»
Dieses Gedicht wurde von Das Narr kuratiert.

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Mach es den Krokussen gleich

Viel mehr als den Artikel zum Singular; der oder das Krokus – die Artikelverschiebung zu das ist ein Helvetismus – braucht man Frieda von Medings Gedicht nicht mehr hinzuzufügen, weil es die weiteren Merkmale des Gewächs’ poetisch umschreibt. Wichtiger als die Beschreibung werden dadurch die beiden einzigen Momente des Gedichts, in denen es sich von der Wahrheit respektive dem eigenen Untersuchungsgegenstand abwendet. Dies geschieht einerseits im Titel, in dem sich die durch Insekten eigentlich erfolgende Bestäubung zur «betäubung» verschiebt, andererseits in der ersten Zeile, in der die Pflanzen zur Metapher dienen: «leben, die wie krokusse wachsen». Durch dieses initiale Framing erhebt sich das Gedicht von einer rein poetischen Beschreibung der Krokusse und eröffnet einen breiten Assoziationsspielraum.

Angenommen, dass die gemeinten Leben nicht Pflanzen, sondern Menschen sind, stellt sich die Frage, was der Text für weitere Bedeutung mitträgt. Die Zierpflanzen und Knollenkräuter sind noch ohne mentale Gymnastik als Analogien auf den Menschen übertragbar, aber spätestens der glatte «blattrand» macht stutzig; die Leben fächern sich doch an den Rändern eher aus und bedürfen der Pflege (und des Glücks) um glatt zu erscheinen. Ganz sicher wachsen sie nicht einfach so. Spielt man die durch die beiden Stellen aufgerissenen Abgründe weiter durch, verwandelt sich die vermeintliche Wahrheit des Texts in ein schwer fassbares Monstrum – fast wäre ich versucht zu sagen, in eines mit stark voneinander abgesetzten Körperteilen und genau drei Beinpaaren. Und wenngleich man all die weiter entstehenden Bilder ignoriert; es bleibt die Betäubung. Die Krokusse können gar nicht betäubt werden, sonst wäre das Gedicht nach der ersten Zeile fertig – weil Wachstum unmöglich geworden ist. Frieda von Medings Gedicht zerpflückt die Wahrheit in die einzelnen Bestandteile einer Pflanze. Zuerst wird die vermeintliche Wahrheit aufgezogen – das fehlende «s» im Titel ist leicht zu überlesen – die sich dann als offensichtlich falsch entpuppt und sich auffächert. Bis an den Rändern alles glatt erscheint, und sich die Leben «gelb, weiss, hell-violett» schimmernd erheben. Wie Krokusse eben.

Nick Lüthi

Schreibt und spricht über Bücher aus unabhängigen Verlagen für diverse Medien. Veröffentlichung von Gedichten in diversen Literaturzeitschriften.

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